TEC21, 2017, Heft 49-50 / Studienauftrag Tössfeldstrasse Winterthur

Inspiriertes Laubenganghaus

Wettbewerb Tössfeldstrasse Winterthur KilgaPopp TEC21, Andreas Kohne
Visualisierung: KilgaPopp

Direkt neben dem ehemaligen Güterbahnhofsgebäude in Winterthur Töss ist Platz für einen Neubau. Den Studienauftrag für ein Wohnhaus mit Kleinwohnungen und Gewerbenutzungen gewann das Projekt von KilgaPopp Architekten.

 

Das Gebiet um den Bahnhof Winterthur Töss wird sich weiter verändern. Es begann 1876, als gleichzeitig mit dem Bau der Bahnlinie von Winterthur nach Koblenz das erste Bahnhofsgebäude entstand. Der Bahnhof löste damals im Eichliackerquartier eine rege Bautätigkeit aus, und die Maschinenfabrik Rieter sorgte mit ihrem Bahntransportaufkommen dafür, dass der Bahnhof Töss in der Rangliste der Zürcher Bahnhöfe weit oben stand. Neben dem ursprüng­lichen Güterbahnhof kamen später ein richtiges Stationsgebäude und ein kleines Gebäude als «Bedürfnis­anstalt» mit Aborten für Männer und Frauen dazu.

Das Stationsgebäude wurde 2005 geschlossen und in eine unbediente Haltestelle für die Regionalbahn überführt, und das ehemalige Güterbahnhofgebäude dient seit 2011 als Kulturzentrum und steht zusammen mit dem WC-Häuschen unter potenziellem Schutz. Geblieben ist eine unbebaute, zwischen Bahngleis und Tössfeldstrasse ge­legene Parzelle mit einer Fläche von 3010 m2, die gegen Osten an das Gebäude des Güterbahnhofs an­schliesst und heute scheinbar wahllos als Lager- und Umschlagplatz genutzt wird. Mit einem Studienauftrag suchte die Luzerner Pensionskasse (LUPK) unter fünf Teams nach einem innovativen und quartierverträglichen Vorschlag für Kleinwohnungen und Gewerbenutzungen, der diesem speziellen Ort gerecht werden soll und auf die potenziell schutzwürdigen Bahnhofsbauten Rücksicht nimmt.

 

Vielfältige Laubengang­erschliessung

Das Projekt «Wegerich» von Kilga­Popp Architekten aus Winterthur hat das Beurteilungsgremium am meisten überzeugt. Ein einfacher langer Baukörper wird nah an die Tössfeldstrasse gesetzt, somit wird ein klarer Strassenraum geschaffen. Auf der anderen Seite ­gegen die Bahn entsteht durch diese eindeutige ­Setzung ausreichend Platz für einen sogenannten Bahngarten mit Velounterstand und dem verlangten öffentlichen Durchgang entlang der Gleise. Geschickt in diesen Grünstreifen platziert liegt die Einfahrt in die unterirdische Autoeinstellhalle. An den beiden Gebäu­deenden befinden sich die Vertikal­erschlies­sungen mit Lift und offenen Kas­kadentreppen. Sie führen auf die ­Laubengänge, die sich als Erschlies­sungstypologie idealerweise an­bieten und sich in diesem Fall geschossweise abwechseln. Der Laubengang liegt im 1. Obergeschoss und im Dachgeschoss zur Stras­sen­seite und im 2. Obergeschoss zur Bahn hin. Somit wird der Laubengang um das ganze Haus geführt und unterschiedlich aus­formuliert. Im 2. OG wird er zusätzlich überraschend mit den Balkonen der je­­weiligen Wohnungen kombiniert.

Diese abwechslungs­reiche Laubengangerschliessung als «promenade architecturale» prägt den Ausdruck des Gebäudes und ist zugleich massgebender Auslöser und Generator für die unterschiedlichen Wohnungstypen. Bei den Wohnungen im 1. Obergeschoss und im Dachgeschoss richten sich die Individual­zimmer nach Süden, während sie sich im Erdgeschoss und im 2. Obergeschoss nach Norden orientieren. In allen Fällen sind die privaten Zimmer vom Laubengang abgewandt und lassen die gewünschte Privatsphäre zu. Die 50 Wohnungen bieten trotz dem knappen Platzan­gebot gut zonierte und belichtete Räume.

Der zurückhaltende architektonische Ausdruck des Hauses ist direkt kombiniert mit der Idee der Laubengangtypologie. Die Südfas­sade zur Bahn wird durch die seriell angeordneten, grossen Vergla­sungen sowie durch die Erschlies­sungs­lauben im 2. Obergeschoss geprägt, während die übrigen Fassaden als verputzte Lochfassaden ausformuliert sind. Die charakterbildenden architektonischen Elemente der Fassade und die ikonografische Stirnfassade zum neu gebildeten Quartier­platz ergeben ein starkes Gebäude, das eine stimmige Antwort auf den spezifischen Ort gibt. Die Vermittlung zwischen dem öffentlichen Bahngarten und dem privaten Wohnen an der Bahn scheint gelungen.

 

Zu wenig Tageslicht

Das konkurrierende Projekt «Maximilian» von Egli Rohr Partner Architekten schlägt ein lang gezo­genes, gegeneinander versetztes Gebäude vor, das mehr oder weniger mittig auf der Parzelle liegt. In Richtung des neuen Bahnhofplatzes sind im Erdgeschoss überhohe Gewerbe­räume positioniert. In der Verlängerung befinden sich die seriell angeordneten Erdgeschosswohnungen, die zum Schutz der Privatsphäre mit einem Garten- und Zugangshof eingefasst werden. Das prägt den davor liegenden öffentlichen Aussenraum. Der Gebäudedurchgang und die Vertikalerschliessung mit Lift in die oberen Geschosse sind beim Gebäudeversatz zu finden. Die Erschlies­sung nimmt den Höhenunterschied der beiden Gebäudeteile geschickt auf und ermöglicht einen hindernis­freien Zugang zu ­allen Wohnungen. Die Laubengang­erschliessung liegt bei diesem Projekt auf der Nordseite zur Tössfeldstrasse. Gen Süden prägen die den Wohnräumen vorgelagerten Balkone den Ausdruck des Gebäudes.

Die tiefen 2.5-Zimmer-­Woh­nungen im EG sind um einen frei stehenden Sanitär- und Küchenblock organisiert und können durch Schiebetüren zoniert werden. Im 1. und 2. OG befinden sich klar strukturierte, durchgesteckte Wohnungen mit Küche zum Laubengang. In den schmalen und tiefen, räumlich nicht übermässig anregenden Wohn- und Essräumen wird aufgrund der gros­sen Bautiefe, dem ­Balkon und Laubengang und den schmalen Küchenfenstern nur wenig Tageslicht zu erwarten sein. Dieses Defizit wiegt für das Beurteilungsgremium zu schwer, da mehr als die Hälfte aller 45 Wohnungen davon betroffen sind.

 

Innovativ und kompakt

Mit dem Studienauftrag dürfte für die LUPK die Grundlage für die Erfüllung der erhöhten ge­stal­terischen Anforderungen einer Arealüberbauung gemäss §77 PBG gelegt sein. Das Beurteilungsgremium und der Veranstalter sind mit den Ergebnissen sehr zufrieden und prognostizieren für die Wohnungen mit ihren «innovativen, kompakten und besonders guten Grundrissen» an der guten Mikro- und Makrolage eine vielversprechende Zukunft. Die Kleinwohnungen sollen Wohnraum für junge Erwachsene oder Paare sowie Alleinstehende und Paare mittleren Alters schaffen. Zudem soll der Quartierplatz als ­öffentlicher Ort für das gesamte ­Gebiet dienen und durch die Gewerbenutzung ein belebtes Quartier entstehen. Nicht explizit erwähnt wird, dass sich mit der Forderung nach einer gros­sen Anzahl von Kleinwohnungen das Risiko für den Investor verkleinert – eine Tendenz, die sich immer häufiger beobachten lässt und sich längerfristig nicht minder auf den Ort auswirken wird. • Text: Andreas Kohne

Schweizerische Bauzeitung – TEC21, 2017, Heft 49-50; PDF

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