Auf dem zukünftigen Justiz-Campus in Winterthur entsteht ein Neubau für das Sozialversicherungs-gericht des Kantons Zürich. Beim öffentlichen Projektwettbewerb setzte sich das gut durchdachte Projekt «Junis» von Zimmer Schmidt Architekten gegen 30 andere Eingaben durch.
«Eigentum vor Miete»: Das ist einer der Grundsätze des Kantons Zürich, wenn es um Verwaltungsgebäude geht. Beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich (SVGer) kann dieser Grundsatz momentan nicht gelebt werden, denn das Gericht ist in Winterthur in einem Gebäude an der Lagerhausstrasse 19 eingemietet. Dessen Strukturen sind zudem für einen zeitgemässen Betrieb ungenügend. Vor diesem Hintergrund wird auf dem neu auszubildenden Justiz-Campus ein Neubau erstellt. Der Campus liegt nördlich der Altstadt und des Hauptbahnhofs Winterthur. Er reiht sich in eine lose Abfolge von Campusanlagen in Winterthur, die sich vom Kantonsspital über den Gymnasialcampus und den ZHAW Campus Technikumstrasse bis hin zum ZHAW Campus St. Georgien-Platz erstrecken. Der Wettbewerbsperimeter befindet sich hinter dem Alten Bezirksgericht von 1877 im Winterthurer Villenquartier mit grossen Gärten und privaten Grünanlagen. Begrenzt wird das Areal im Norden durch die SBB-Bahnstrecke, im Westen durch die Lindstrasse, die von der Altstadt in Richtung Schaffhausen führt, und im Süden durch die Hermann-Götz-Strasse.
Der Justiz-Campus besteht heute bereits aus dem Altbau des Bezirksgebäudes, der 1964 erstellt und 2005 ergänzt wurde, und dem Gefängnis, das zurückgebaut wird. Für die Bezirksanlage ist gegen Norden eine Erweiterung in Planung, die aus einem zweistufigen Wettbewerbsverfahren von 2015 hervorgeht. Auf dem östlichen Teil des Areals sollen das neue Sozialversicherungsgericht und ein Verwaltungsbau projektiert werden. Mit dem Projektwettbewerb im offenen Verfahren wurde einerseits ein städtebaulicher Gesamtvorschlag zur Vervollständigung des Justiz-Campus gesucht, andererseits ein konkreter Projektvorschlag für das neue Sozialversicherungsgericht.
Sockel mit Innenhof
Zimmer und Schmidt Architekten schlagen mit ihrem Siegerprojekt «Junis» zwei lange, schmale Bauten vor, die zueinander versetzt angeordnet sind und den Campus verlängern und räumlich abschliessen. Der eingeschossige Sockel beim leicht überhöhten Gebäude des Sozialversicherungsgerichts dient als räumlicher Vermittler zu den angrenzenden Bauten im Villenquartier und verleiht dem Haus seine Bedeutung als Gerichtsgebäude. Im Sockel sind die halböffentlichen Funktionen untergebracht: eine gesicherte Eingangszone, Gerichtssäle, Anwaltszimmer und Wartebereiche. Die beiden Gerichtssäle liegen an einem eingeschossigen Innenhof, der Tageslicht in die Räume bringt und für eine introvertierte und diskrete Atmosphäre sorgt. Die Obergeschosse sind beidseitig entlang des zentralen Erschliessungskorridors einfach strukturiert und für die hohen Ansprüche der Nutzungsflexibilität optimal ausgelegt.
Bei den anderen rangierten Projekten fallen die markanten Bauten mit klaren Volumen, tendenziell grösseren Bautiefen und zentralen Erschliessungen auf. Das zweitplatzierte Projekt «Justice League» von Karamuk Kuo Architekten schlägt ein sechsgeschossiges Gerichtsgebäude und einen viergeschossigen Erweiterungsbau an einem länglichen Vorplatz vor. Das Gerichtsgebäude mit annähernd quadratischem Grundriss ist dabei als fünfgeschossiges Atriumhaus über einem halböffentlichen Erdgeschoss organisiert. Beim Projekt «Eunomia1» von Waldrap Architekten auf dem dritten Rang strukturieren zwei unterschiedlich hohe Baukörper den Aussenraum. Der rechteckige Baukörper des prägnanten Hauptbaus steht dabei quer zur Längsrichtung der umliegenden Bauten. Das viertplatzierte Projekt «Court-Yard» von Thomas K. Keller Architekten schlägt einen viergeschossigen Baukörper mit einem grosszügigen polygonalen Innenhof vor, was in der Konsequenz zu einem grossen Fussabdruck und langen Fassadenabwicklungen führt.
Hybride Bauweise
Alle rangierten Projekte setzen sich intensiv mit Holz- und Hybridbau auseinander. Die Legislaturziele des Regierungsrats mit einer langfristigen Klimastrategie und einem Vorgehen zur Dekarbonisierung führen dazu, dass die Gebäude über ihren ganzen Lebenszyklus zu bewerten und zu optimieren sind. Bei «Junis» folgt daraus, dass Untergeschoss und Sockel in Ortbeton vorgeschlagen werden. Darüber folgt eine Verbundbauweise aus Holz und Beton, mit Ausnahme der betonierten und aussteifenden Wände des Erschliessungskerns. Das Deckensystem besteht aus vier in Längsrichtung verlaufenden Brettschichtholzträgern und darüber verlegten Massivholzplatten, die mit Ortbeton im Verbund wirken. Der Beton bringt Masse ins Gebäude, und die Brettschichtholzträger wirken entlang der Korridore als Unterzüge und entlang der Fassade als Brüstung. Beim zweitplatzierten Projekt «Justice League» wurde der Holz-Beton-Hybridbau im Sinn des Konzepts anders umgesetzt. Unter- und Sockelgeschoss werden in Stahlbeton ausgeführt, ebenso der innen liegende Kernbereich der Obergeschosse, der von einem reinen Holzbau umschlossen wird. Mit 32 cm dicken Brettsperrholzplatten als Decken können die akustischen und brandschutztechnischen Vorgaben ohne zusätzliche Überdeckung eingehalten werden.
Ausdruck eines Gerichtsgebäudes
Ganz allgemein stellt sich die Frage, wie sich ein Gerichtsgebäude heutzutage von einem Forschungs- oder Laborgebäude unterscheidet und wie aus technischen Elementen jeweils ein spezifischer und differenzierter architektonischer Ausdruck gewonnen werden kann. Beim Siegerprojekt «Junis» spiegelt der Ausdruck des Gebäudes die innere Organisation und die konstruktive Umsetzung mit Betonsockel und leichtem Holzbau wider. Die Fassaden sind geprägt durch einen regelmässigen Fassadenraster und die geschlossenen Brüstungsbänder. Die Markisen unterstützen dabei den filigranen und leichten Ausdruck des Gebäudes. Auf jedem zweiten Geschoss strukturieren umlaufende Vordächer den hohen Gebäudekörper und wirken als Brise-soleil und baulicher Wetterschutz. Beim drittplatzierten Projekt «Eunomia1» vermisst die Jury dahingehend einen spezifischen Ausdruck: «Es ist jedoch fraglich, ob die Fassadenarchitektur dem Ausdruck eines öffentlichen, städtebaulich prägnanten Gebäudes entspricht.» Auch beim 4. Rang hält die Jury fest: «Bei aller Sympathie für den gewählten Ansatz vermisst man letztlich doch einen etwas institutionellen Charakter für das Sozialversicherungsgericht im Kontext des zukünftigen Justiz-Campus.»
Nachhaltiges Gebäudekonzept
Das Gebäudetechnikkonzept beim Siegerprojekt folgt den Anforderungen des SNBS-Standards sowie Minergie-P-Eco und steht für einen Lowtech-Ansatz. Durch die gezielte Anbringung thermischer Speichermasse am Holzbau, aussen liegenden Sonnenschutz und geschützte Nachtauskühlmöglichkeiten (z. B. Gerichtssäle über Innenhof) wird neben dem Heiz- und Kühlbedarf auch der Einsatz an grauer Energie minimiert. Die hochwärmegedämmte Gebäudehülle weist einen angemessenen Glasanteil auf. Beim zweitrangierten Projekt liegt der Glasanteil beispielsweise bei fast 70 %. Für die Überarbeitung des erstplatzierten Projekts wird empfohlen, zusätzlich zur bereits vorgesehenen PV-Anlage auf dem Dach eine solare Nutzung der umlaufenden Brises-soleil zu prüfen.
Übergeordnetes Freiraumsystem
Bei der Aussenraumgestaltung greift das Planungsteam des Siegerprojekts die Gestaltungsabsicht der ersten Bauetappe auf und entwickelt sie weiter. Die Bepflanzung der verschiedenen Parkbäume wird mit immergrünen Gehölzen durchsetzt. Als Reminiszenz werden im Schrebergartenareal dauerhafte Gemüsearten, Blumen und Frühlingsblüher unter die Bäume gestreut. Entlang der Bahngleise wird der Grüngürtel mit heimischen Gehölzen fortgesetzt. Im Innenhof des Sockelbaus überträgt ein farbiger Jahreszeitenbaum (Japanischer Ahorn) unterschiedliche Farbstimmungen in die anliegenden Foyer- und Gerichtsräume. Seine Krone stösst bis über die darüberliegende Terrasse, die den Mitarbeitenden als Aussenraum und Dachgarten dient.
Die Jury hält fest, dass das Siegerprojekt sämtliche mit der Aufgabe verbundenen, relevanten Fragestellungen erkennt. «Mit grosser Gelassenheit und ohne Effekthascherei werden sie beantwortet, und es wird aufgezeigt, wie dem Sozialversicherungsgericht mit Pragmatismus und Intelligenz die Anmut und Würde verliehen werden kann, die der Bedeutung unserer Rechtsprechung zukommt – kein Spektakel, sondern schlichte Eleganz.» • Text: Andreas Kohne
Schweizerische Bauzeitung – Webseite Espazium 2021, PDF
© Andreas Kohne